"Streiflichter zur Geschichte der Arbeiterbewegung im Landkreis Günzburg - von den Anfängen bis 1945" von Stan Zofka
Um die Jahrhundertwende geriet auch im Landkreis Günzburg die Arbeiterschaft in Bewegung. An allen Orten, wo genügend Arbeiter wohnten, bauten sie örtliche Gewerkschaftsorganisationen auf und gründeten Ortsvereine der Sozialdemokratischen Partei. Sie begannen sich zusammenzuschließen, sie organisierten sich, um gemeinsam für bessere Lebensbedingungen in wirtschaftlicher wie auch in politischer Hinsicht zu kämpfen.
Aber auch in anderen Orten regte sich die sozialdemokratische Bewegung. So berichtet der Gendarmerie-Stationskommandant Johann Hurler von Burgau am 3.Juni 1893 an das Bezirksamt:
Neben der politischen wurde aber auch die gewerkschaftliche Organisation aufgebaut, vor allem in den Kleinstädten, in denen größere Betriebe vorhanden waren. In Günzburg entstanden verschiedene Gewerkschaften, je ein Fachverband für Metallarbeiter, Textilarbeiter, Holzarbeiter und Schneider. In Ichenhausen entstand 1906 eine Ortsgruppe des Verbandes der Schneider und Schneiderinnen. Kurz darauf wurde auch eine Filiale des Christlichen Schneiderverbandes in Ichenhausen ins Leben gerufen, auch anderweitig wurden kleine Filialen der christlichen Gewerkschaften aufgebaut, so dass es bald an allen größeren Orten die organisierten Arbeiter gespalten in christliche und freie gab, wobei letztere der SPD nahestanden. Die sogenannten Christlichen blieben aber überall in der Minderheit.
Im Herbst 1913 kam eine neue Aufgabe auf die organisierte Arbeiterschaft im Landkreis zu. Im Vollzug des Reichsversicherungsgesetzes wurde in Günzburg eine allgemeine Ortskrankenkasse für die Stadt und den Landkreis eingerichtet. Da die Kasse nach dem Prinzip der Selbstverwaltung geführt werden sollte, mußte ein Versichertenausschuß, besetzt von Arbeitnehmern, und ein Arbeitgeberausschuß gewählt werden. Dabei galt es sicherzustellen, daß die Interessen der Arbeitnehmer bei der Kassenführung möglichst effektiv vertreten würden.
Am 29. September 1918, nach der mißglückten Frühjahrsoffensive der deutschen Truppen und nach dem Rückzug in die Siegfriedstellungen, forderte General Ludendorff, dass sofort ein Waffenstillstandsangebot gemacht werde. keine 24 Stunden dürfe man mehr warten, die Ostfront könne jeden Augenblick zusammenbrechen. Acht Tage später hatte er es sich schon wieder anders überlegt, nun verlangte er die Zurückziehung des Waffenstillstansangebotes und die Ausrufung der nationalen Verteidigung. Doch die meisten Deutschen hatten genug. Sie wollten sich nicht länger von diesem rücksichts- und gewissenlosen Militärdiktator an der Nase herumführen lassen. Sie wollten endlich Frieden und Brot. Jahrelang hatte das Volk gehungert, die Menschen waren so entkräftet, dass viele an einer einfachen Grippe starben, auch in unserem Landkreis.
Was wollten die Arbeiterräte? Sie wollten übergangsweise, d.h. bis zum Inkrafttreten einer neuen Verfassung und bis zum Zusammentritt der neugewählten Parlamente in Reich, Ländern und Gemeinden, die politischen Verhältnisse am Ort im Sinne der Interessen der Arbeiterschaft mitbestimmen.
Der für den hiesigen Wahlkreis von der SPD aufgestellte Landtagskandidat stammte aus dem Landkreis Günzburg, er hieß Otto Geiselhart, geboren 1890, also erst 28 Jahre alt, ein relativ junger Mann für ein derartiges Amt. Aufgewachsen war Geiselhart in Burgau, gelernt hatte er den Beruf des Käsers.
Wenige Wochen nach der Landtagswahl, am 23.Februar 1919, wurde Kurt Eisner von einem rechtsradikalen Fanatiker ermordet, bald darauf übernahmen in München die Räte die Macht, die sozialdemokratische Regierung Hofmann floh nach Bamberg. Bayern war zur (kommunistischen) Räterepublik geworden.
Unmittelbar nach dem Kreige erlebte die freie Gewerkschaftsbewegung einen ungeheuren Aufschwung - auch im Landkreis Günzburg. Dies zeigte sich nicht nur in einem Mitgliederzuwachs bei den schon bestehenden örtlichen Fachgruppen, die Organisation dehnte sich auch räumlich aus, und sie konnte in neue Branchen vorstoßen. Als Beispiele seien nur die Gründung der Zweigstelle des Bauarbeiterverbandes in Oberknöringen (März 1919) und die Gründung eines Torfarbeiterverbandes in Burgau (April 1919) erwähnt.
Die Entwicklung der politischen Organisation der Arbeiterbewegung in diesen Jahren verlief ganz ähnlich wie die der Gewerkschaften. Die politische und wirtschaftliche Entwicklung dieser Jahre ging auch an der SPD nicht vorbei. In der Rätezeit war es nicht nur zu einem Mitgliederzuwachs bei den bestehenden Ortsvereinen, sondern auch zur Gründung neuer Ortsvereine gekommen, so in der Stadt Leipheim und in dem großen "Industriedorf" Offinge, aber auch in zwei Landgemeinden, in Dürrlauingen und Oberwaldbach. Doch mit der Verschärfung der wirtschaftlichen Lage, mit der immer rascher galoppierenden Inflation kam es zu großen Mitgliederverlusten bei der Partei, die beiden zuletzt genannten, personell noch schwach besetzten ländlichen Ortsvereine lösten sich rasch wieder auf.
Obwohl in Deutschland nun eine Republik bestand, und obwohl die SPD zu den Parteien gehörte, die sich am nachdrücklichsten zu der neuen Staatsform bekannten, war die Partei - und die ihr nahestehenden Vereine - vor diskriminierenden Maßnahmen seitens staatlicher Stellen keineswegs geschützt. Gerade in der "Schwächezeit" der Arbeiterbewegung, auf dem Höhepunkt der Inflation, sah so mancher im alten Denken verhaftete Beamte die Zeit gekommen, dieser Partei wieder einmal eins auszuwischen.
Fragen des Einflusses auf die Jugend und Erziehungsfragen spielten auch in den Wahlkämpfen dieser Zeit eine nicht unwesentliche Rolle. Vor dem Hintergrund sozialdemokratischer Forderungen zur Schulreform (Einführung der interkonfessionellen Schule, gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen) entfachte die konservative Bayerische Volkspartei (die Vorläuferin der CSU) eine demagogische Propagandakampagne, die den früheren Agitationsfeldzügen des Bayerischen Zentrums bzw. der Patriotenpartei (so nannte sich die BVP vor 1918) in nichts nachstand.
Der große New Yorker Börsenkrach im Herbst 1929 bescherte nicht nur den USA, sondern der ganzen Welt eine Wirtschaftskrise bisher nicht gekannten Ausmaßes. Die Arbeitslosenzahlen schnellten in die Höhe. Nachdem schon in den Wintermonaten der "normalen Jahre" (1925-1928) die Zahlen immer die Zwei-Millonen-Grenze überschritten hatten, wuchs nun das Heer der Arbeitslosen im deutschen Reich auf über 6 Millionen. Mit der Krise kamen auch wieder die Nazis. Auch im Landkreis Günzburg.
Übrigens kam es recht bald zum Streit zwischen dem "Bund Bayern und das Reich" und der NSDAP, und zwar nicht aufgrund örtlicher Differenzen, sondern vor dem Hintergrund nicht näher bekannter Vorgänge in München (im Zusammenhang mit dem dort stattgefundenen "Deutschen Turnfest"). Die Mitgliederversammlung der NSDAP-Ortsgruppe Günzburg beschloß daraufhin geschlossen den Austritt aus dem Bund, während der Vorsitzende der Ortsgruppe Günzburg des "Bundes Bayern und das Reich" seinerseits den Austritt aus der NSDAP erklärte. Dr. Quaglia bedauerte in seinem Bericht die dadurch eingetretene Schwächung des Bundes ganz außerordentlich. Die Reste des Bundes siechten noch eine Weile vor sich hin, verschwanden dann aber bald - ähnlich wie die ersten Bürgerwehrvereinigungen - endgültig in der Versenkung.
Selbstverständlich hat auch die SPD Wähler an die NSDAP verloren, und selbstverständlich gab es auch Arbeitslose, die in ihrer Verzweiflung NSDAP gewählt haben. Doch die Masse der Arbeitslosen im Landkreis Günzburg blieb ihrer angestammten Partei, der SPD, treu. Nur ein teil wandte sich einer anderen Partei zu, und dies war nicht die NSDAP in erster Linie sondern die KPD. Der Stimmanteil der KPD wuchs von 182 Stimmen 1928 bis auf 816 Stimmen Ende 1932 an, während die SPD von den 3296 Stimmen bei der Reichstagswahl 1928 immerhin noch 2951 Stimmen Ende 1932 halten konnte. Das heißt, dass die Kommunisten nicht nur Stimmen von der SPD sondern auch, ähnlich wie die NSDAP, viele bisherige Nichtwähler dazugewonnen haben.
Das große, zentrale Problem war damals natürlich die furchtbare Arbeitslosigkeit. Die Kommunisten witterten hier ihre große Chance und versuchten überall „Erwerbslosenausschüsse“ ins Leben zu rufen, die selbstverständlich unter der Leitung kommunistischer Funktionäre zu stehen hatten. Zwar kamen an einigen Orten derartige Ausschüsse zustande, z.B. in Günzburg oder Ichenhausen, doch fanden diese nur wenige Anhänger unter den Erwerbslosen. Denn die Kommunisten waren zu spät dran.
Aber nicht nur die Arbeitslosen wurden von der Krise hart getroffen. Auch die Arbeiter, die ihren Arbeitsplatz behielten, mussten immer wieder Lohnkürzungen hinnehmen. Die Gewerkschaften waren dagegen machtlos. Bei dieser großen Zahl von Arbeitslosen konnte man keinen Streik organisieren! Zu groß war die Zahl der Arbeitswilligen, die nur darauf gewartet hätten, den Arbeitsplatz eines streikenden Arbeiters zu übernehmen. So blieb den Gewerkschaften wieder einmal nichts anderes übrig, als auf dem Preissektor statt auf dem Lohnsektor zu arbeiten. Sie mussten versuchen, alles zu tun, um angesichts der Lohnkürzungen auch entsprechende Preissenkungen durchzusetzen oder zumindest weitere Preiserhöhungen vor allem bei den lebensnotwendigen Gütern zu verhindern.
Der Bürgerkrieg ist Deutschland damals erspart worden. Aus heutiger Sicht stellt sich allerdings die Frage, ob es nicht das geringere Übel gewesen wäre, wenn die Arbeitnehmerbewegung von sich aus losgeschlagen hätte. Aber im nachhinein lässt es sich immer leicht reden. Sicher, Gewerkschaften und Eiserne front waren bereit zum Kampf, nur SPD- und Gewerkschaftsführung zögerten. Sie wollten einfach nicht das Leben so vieler Genossen und Polizeibeamter (die „rot“ preußische Polizei hätte sich sicherlich auf die Seite der Arbeiterbewegung gestellt), so vieler Familienväter aufs Spiel setzen, denn noch bestand wenigstens ein Fünkchen Hoffnung, der Kelch könne vielleicht doch noch einmal an Deutschland vorübergehen.
Die Aufdeckung des nationalsozialistischen Volksbetrugs, die Aufdeckung der Widersprüchlichkeit der nationalsozialistischen Versprechungen war ein weiteres wesentliches Element der sozialdemokratischen Aufklärungskampagne gegen die NS-Bewegung.
Gerade die Wirtschaftskrise hatte die Abhängigkeit der Produzenten, der Landwirte, Handwerker und Geschäftsleute von der Kaufkraft der Konsumenten, von der Höhe der Löhne der Arbeiter deutlich gemacht. Deshalb versuchte die SPD hier anzusetzen, um den bäuerlichen und gewerblichen Mittelstand ins Bewusstsein zu rufen, dass es durchaus eine gemeinsame Interessenbasis zwischen Arbeiterschaft und Mittelstand gab.
Am 30.Januar 1933 wurde Hitler Reichskanzler. Da er über keine parlamentarische Mehrheit verfügte, wurde der Reichstag aufgelöst und Neuwahlen für den 5.März angesetzt. Der letzte, kaum noch „demokratisch“ zu nennende Wahlkampf begann. Paradoxerweise fiel diese letzte große Entscheidungsschlacht um die Zukunft Deutschlands in die Faschingszeit. Am 20.Februar hielten SPD, Gewerkschaften, Arbeitergesangsverein und die anderen freien Vereine in Günzburg eine Faschingsveranstaltung ab. Das Motto lautete: „Mehr Mut!“. Galgenhumor.