Die Anfänge (1887 - 1914), Die Gewerkschaften

Neben der politischen wurde aber auch die gewerkschaftliche Organisation aufgebaut, vor allem in den Kleinstädten, in denen größere Betriebe vorhanden waren. In Günzburg entstanden verschiedene Gewerkschaften, je ein Fachverband für Metallarbeiter, Textilarbeiter, Holzarbeiter und Schneider. In Ichenhausen entstand 1906 eine Ortsgruppe des Verbandes der Schneider und Schneiderinnen. Kurz darauf wurde auch eine Filiale des Christlichen Schneiderverbandes in Ichenhausen ins Leben gerufen, auch anderweitig wurden kleine Filialen der christlichen Gewerkschaften aufgebaut, so dass es bald an allen größeren Orten die organisierten Arbeiter gespalten in christliche und freie gab, wobei letztere der SPD nahestanden. Die sogenannten Christlichen blieben aber überall in der Minderheit.

Zu Beginn des Jahrhunderts steckte die Industrialisierung des Landkreises noch in den Anfängen. Dementsprechend herrschten in den Betrieben noch weitgehend frühkapitalistische Zustände, d.h. die Löhne lagen weit unter dem reichsdurchschnitt und die Arbeitszeiten betrugen durchwegs 11 - 13 Stunden pro Tag und mehr. Das Arbeiter von Fabrikaufsehern geprügelt wurden, war durchaus noch an der Tagesordnung. Doch die organisierten Arbeiter wehrten sich gegen diese Zustände. Überall kam es zu Arbeitskämpfen, auch im Landkreis Günzburg kam es nach dem ersten weltkrieg zu Streiks in webereien und Textilbetrieben, in Brauereien und in den Ziegeleien. Einer der Höhepunkte im Kampf um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen war der große Schneiderstreik, der im Frühjahr 1911 in Ichenhausen ausbrach. Einer der bestreikten Betriebe war die Firma Gebr. Sulzer un Co., die zahlreiche Schneider aus Ichenhausen und den umliegenden Ortschaften als Heimarbeiter beschäftigte. Die Mitglieder der christlichen Gewerkschaften spielten bei diesem Streik - wie so oft - die unrühmliche Rolle der Streikbrecher, nachdem sie bereits für ihre Mitglieder "im guten Einvernehmen mit der Geschäftsleitung" eine Lohnerhöhung ausgehandelt hatten.

Da sich der Streik jedoch hinzog, griff Bezirksamtmann Wimmer als Schlichter ein und die freien gewerkschaften konten eine 7-10 prozentige Lohnerhöhung und andere Verbessereungen durchsetzen. Auch erreichten sie das angestrebte ziel, nämlich einen einheitlichen Tarifvertrag, der für alle Arbeiter gleichermaßen galt, was zur damaligen Zeit alles andere als selbstverständlich war.

Doch die Unternehmer wandten alle Mittel an, um die Löhne zu drücken, bzw. niedrig zu halten. So wurden von einer Ichenhausener Ziegelei schon damals ausländische Arbeiter ("Gastarbeiter" aus Polen) hergeholt, die für ein paar naturalien - etwas Brot und Kartoffeln - und für einen Hungerlohn von 30 Monatlich bei 11-stündiger Arbeitszeit zu arbeiten bereit waren. Frauen und Jugendliche bekamen ein noch geringeres Naturalieneinkontigent und nur 25 Mark monatlich. Zum Vergleich: Im Reichsdurchschnitt verdiente damals ein männlicher Bauarbeiter ca. 110 Mark monatlich. Doch auch die polnischen Arbeiter begannen sich zur Wehr zu setzen. Der Pressewart des SPD Ortsvereins Ichenhausen berichtet am 12.Juni 19913 in der sozialdemokratisch orientierten "Schwäbischen Volkszeitung" über den Streik der polnischen Arbeiter in Ichenhausen:

"Schon des öfteren musste durch die organisierte Arbeiterschaft Kritik an den Zuständen in der Ziegekfabrik von Reichold und Schmid dahier üblich waren. Heuer sollte mit noch willigeren, mit noch billigeren Arbeitskräften der Versuch gemacht werden - mit polnischen Arbeitern. Auch der Sklavenvermittler, ein Herr Scheinmann kam gleich mit aus Polen... ist an und für sich ein Arbeiter, welcher sich auf einen solchen Vertrag (30 Mark monatl. usw.) einläßt, mit seinen Kulturansprüchen noch auf der untersten Stufe der Menschheit, so ist es wohl jedem vernünftigen Menschen ohne weiteres klar, dass die kertoffeln schon recht schlecht, dagegen die Prügel dagegen aber gute gewesen sein müssen, bis diese Arbeiter um bessere Kost und Behandlung nachsuchten. Anstelle besserer Kost und Behandlung bekamen aber am Samstag früh fünf Arbeiter die Entlassung. Sofort erklärten sich aber weitere 14 Polen mit den Entlassenen solidarisch und legten die Arbeit nieder. In ihrer Hilflosigkeit wandten sich die Polen an die Führer der organisierten Arbeiter in Ichenhausen, welche denselben auch sofort mit Rat und Hilfe beistanden. Eine Vermittlung auf dem magistrate verlief resultatlos, weil sich die Gemeindevertreter mit Ausnahme eines einzigen Kollegiumsmitglieds... auf die Seite des Menschenvermittlers stellten. Am Nachmittag begab sich eine Abordnung der Polen zum Kgl. Bezirksamt Günzburg, wo sofort in der zuvorkommendsten Weise Herr Bezirksamtsassessor Dr. Hollerung eine Vermittling herbeizuführen suchte. Herr Reichold, der Fabrikherr, machte es wie seinerzeit Pilatus; er wusch sich die Hände in Unschuld - diese Arbeiterangelegenheit in seinem Betriebe gehe ihn gar nicht a: Dies sei lediglich Sache des Menschenvermittlers Scheinmann. Dieser stellte sich auf den Standpunkt...: Die Entlassenen werden nicht mehr eingestellt; die anderen können wieder anfangen oder nicht; verdienter Lohn wird keiner herausbezahlt...

Der Samstag abend vereinigte die polnischen sowie eine große Anzahl hiesiger Arbeiter und Bürger in der Brauerei Mondschein, wobei Genosse Lippl deb bisherigen Verlauf...der Verhandlungen schilderte. ... Er konnte an dem Vorgehen der Polen auch den einheimischen Arbeitern ein schönes Bild der Solidarität vor Augen führen... Ein Vorbild für die Einheimischen, in der gleichen Ziegelei beschäftigten Arbeiter! Mancher Einheimischer habe in dem Betrieb schon Prügel und die Hundepeitsche bekommen, und leider haben sich die Einheimischen diesem Treiben nie durch gegenseitige Hilfe, durch Solidarität entgegengesetzt. Was sich die Polen keine zwei Monate gefallen ließen, ließen sich die Einheimischen schon jahrelang gefallen... Eine fröhliche Unterhaltung, Gesang und Vorträge hielten Einheimische und Polen noch einige Stunden beisammen, während dem Polizei und Gendarmerie mit geladenen Revolvern und gefüllten Patronentaschen die ganze Nacht den gefährdeten Betrieb beschützten... Ein nochmaliger Einigungsversuch am Sonntag war wieder erfolglos, da Herr Scheinmann auf der Entlassung der Gemaßregelten bestand. Bis zum abend war jedoch für die größte mehrzahl der Polen anderweitig arbeit gefunden und als ob man sich schon jahrelang kennen würde, so herzkich gestaltete sich der Abschied am Bahnhof... "Waren diese polnischen Arbeiter auch Sozialdemokraten?" fragte der Privatier und Gemeindevertreter M. einen organisierten Arbeiter. "Nein", antwortete derselbe, "aber in Ichenhausen sind sie solche geworden"...

Durch das Vorbild der solidarischen Kämpfe wurden viele mitgerissen. Überall stieg das Selbstbewußtsein der Arbeiter, immer mehr von ihnen begannen Verbesserungen zu fordern. Das verlangte viel Mut, mußte man doch damit rechnen, daß die Unternehmer skrupellos ihre ganze Macht ausspielten.

So berichtet das Bezirksamt Günzburg am 28.Februar 1912 an die Kreisregierung: "In der dem erbl. Reichsrat der Krone Bayern Herrn Grafen Schenk von Stauffenberg gehörigen Brauerei zu Jettingen...waren bisher 1 Mälzer, 2 Brauer und 1 sog. Pfannenbursch beschäftigt. Diese haben Ende Januar laufenden Jahres durch ihre Organisation, den Zentralverband der Brauerei- und Mühlenarbeiter, den Entwurf zu einem Tarifvertrag eingereicht, der eine nicht unbeträchtliche Lohnerhöhung, die Verkürzung der Arbeitszeit und sonstige Verbesserungen für die Arbeiter vorsah... Der Vertreter des Grafen, der gräfl. Rentbeamte Ziegler, lehnte das Verlangen ab und entliess am 5.Februar 1912 die auf ihren Forderungen beharrenden Arbeiter, den Mälzer und 2 Brauer, während der pfannenbursche mit Rücksicht auf seine Verbandszugehörigkeit selbst die Entlassung nahm. Der Betrieb erlitt keine Unterbrechung, da sofort teilweiser Ersatz und am 10.Februar 1912 vollständiger Ersatz geschaffen war. Zu einer amtlichen Vermittlung kam es nicht, da ich von keiner Seite in Kenntnis gesetzt worden bin und da auch die Presse des Amtsbezirks keinerlei Nachricht über die Sache gebracht hat. Die ausgesperrten Arbeiter sind u.z. einer sofort, zwei nach 7 Tagen abgereist. Einer soll in Murnau Beschäftigung gefunden haben."

Was haben nun diese Arbeiter von dieser Aktion gehabt? Unmittelbar natürlich gar nichts, nur den Schaden. Aber dies war nur eine von vielen kleinen und großen - häufig gescheiterten - Einzelaktionen, die alle zusammen den Druck auf die Unternehmer und die politisch Mächtigen verstärkten und so dazu beitrugen, daß sich die Verhältnisse allgemein langsam besserten. Viele organisierte Arbeiter waren sich damals sehr wohl bewußt, daß sie ihre eigenen Lebensbedingungen nur wenig verändern konnten; die Hoffnung konzentrierten sich auf die Kinder und Kindeskinder. Der Gedanke an die Zukunft rechtfertigte die damls gebrachten Opfer.