Im Herbst 1913 kam eine neue Aufgabe auf die organisierte Arbeiterschaft im Landkreis zu. Im Vollzug des Reichsversicherungsgesetzes wurde in Günzburg eine allgemeine Ortskrankenkasse für die Stadt und den Landkreis eingerichtet. Da die Kasse nach dem Prinzip der Selbstverwaltung geführt werden sollte, mußte ein Versichertenausschuß, besetzt von Arbeitnehmern, und ein Arbeitgeberausschuß gewählt werden. Dabei galt es sicherzustellen, daß die Interessen der Arbeitnehmer bei der Kassenführung möglichst effektiv vertreten würden.
Das städtische Versicherungsamt hatte von sich aus eine Arbeitnehmerliste aufgestellt, in der nur Vertreter der "staatserhaltenden Parteien" (des Bauernbundes, des katholischen Zentrums oder der Liberalen) enthalten waren. Die Kandidaten auf diese Liste setzte sich fast ausschließlich aus Mitgliedern der christlichen Gewerkschaften und mithelfenden Familienangehörigen in mittelständischen Betrieben zusammen. Das "vereinigte bürgerliche Wahlkomitee" verfügte auch über genügend Geld, um mit grpßen Anzeigen im Günz- und Mindelboten für die "Neutrale Liste" werben zu können. Die Arbeitgeber wurden öffentlich aufgefordert, dafür zu sorgen, daß ihre Angestellten, Arbeiter und Dienstboten auch zur Wahl gehen (und natürlich "richtig" wählen). Die freien Gewerkschaften hatten deshalb eine eigene Liste aufgestellt und mit eifriger Mund-zu-Mund-Propaganda - für Anzeigen reichte das Geld nicht- für diese geworben.
Das Wahlergebnis fiel in der Stadt Günzburg für die freien Gewerkschaften enttäuschend aus. es wurden nur 177 Stimmen für ihre Listen abgegeben, das waren nur 6 Stimmen mehr als die SPD bei der letzten Reichstagswahl (1912) in Günzburg bekommen hatte - obwohl bei der Wahl zur AOK auch die Frauen mitwählen durften. Das Ergebnis in Günzburg reichte bei weitem nicht für eine Mehrheit, doch im Landkreis wurde das Ergebnis der reichstagswahl von 1912 um fast die Hälfte übertroffen, was zu einer haushohen Mehrheit bei den Industriearbeitern und insgesamt zu einem Gleichstand mit der "Neutralen Liste" führte. Beide Listen durften je 10 Vertreter in den Ausschuß Günzburg-Land entsenden, während in Günzburg nur 3 Vertreter der freien Gewerkschaften gegenüber 9 der "Neutralen Liste" durchkamen.
Bei dieser gelegenheit kurz ein paar Bemerkungen zu den Ereignissen der Reichstagswahlen im Landkreis Günzburg: Im Jahr 1887 wurde im Landkreis zum ersten mal ein sozialdemokratischer "Zählkandidat", es war Georg von Vollmar, aufgestellt, der 10 Stimmen bekam. Drei Jahre später, 1890, bekam die SPD schon 100 Stimmen, 1903 waren es 218 und 1912 schließlich 532 Stimmen. Mit Ausnahme der Reichstagswahl 1893, bei der -wegen der Wirtschaftskrise- die Stimmenzahl der SPD vorübergehend stark angeschwollen war, war also der sozialdemokratische Stimmenanteil von Wahl zu Wahl ziemlich kontinuierlich gestiegen. Bei der Protestwahl 1893 hatte die SPD überall, auch auf den Dörfern, also auch von den Bauern Stimmen bekommen. Doch mit der Zeit bildeten sich klar die Orte, an denen relativ viele Industriearbeiter wohnten, als sozialdemokratische Hochburgen heraus. Es waren dies neben Bühl die Städte Günzburg, Burgau und Ichenhausen, an denen auch Ortsvereine der partei bestanden. Auch in anderen orten, die sich erst nach dem ersten Weltkrieg zu SPD-Hochburgen entwickeln sollten, war die wachsende tendenz zur SPD schon deutlich zu spüren, so in Offingen, in Jettingen, in Wasserburg und in Oberknöringen.
Die Ergebnisse der Wahlen zur AOK, bei denen landwirtschaftliche und gewerbliche Arbeiter getrennt abstimmten, zeigten ganz deutlich, daß bei den gewerblichen Arbeitern die sozialdemokratische Liste eine haushohe Mehrheit (70%) bekam. Doch auch bei den landwirtschaftlichen Arbeitern bekam sie einen durchaus beachtenswerten Stimmanteil. Demnach stellten die landwirtschaftlichen Arbeiter mehr als 1/3 aller sozialdemokratischen Wähler im Landkreis (ohne die Stadt Günzburg). Aber unter den in der Landwirtschaft beschäftigten Arbeitern gab es nicht nur SPD-Wähler, auch als Kandidaten für die gewerkschaftliche Liste bei der AOK-Wahl stellten sich landwirtschaftliche Dienstboten und Tagelöhner zur Verfügung. Unter den 36 Kandidaten der Liste der freien Gewerkschaften für die Stadt Günzburg waren immerhin 6 Bauernknechte und 3 Tagelöhner. In der Landkreisliste, die leider nicht mehr komplett überliefert ist, dürften die Landarbeiter einen noch größeren Anteil an der Zahl der Bewerber gestellt haben. Die anderen Kandidaten entstammten aus den verschiedensten Berufen. ... Festzuhalten bleibt, daß handwerksgesellschaften, Industriearbeiter und landwirtschaftliche Dienstboten gemeinsam am Aufbau der organisierten Arbeiterbewegung im Landkreis beteiligt waren. Als Vertreter der freien Gewerkschaften im Versichertenausschuß der AOK für Günzburg land wurden aus Burgau der Textilarbeiter Alois Roggenwallner (Fa. Wießner Nachf.), der Drechsler Josef Klein, der taglöhner Matthias Frey und der maurer Baptist Findler aus Oberknöringen.
Die zirka 100 sozialdemokratischen Kandidaten für die AOK-Wahl hatten durch ihre Kandidatur großen Mut bewiesen. Denn nun, da sie als "Rote" öffentlich bekannt waren, mußten sie mit allen möglichen Schikanen und Repressalien am Arbeitsplatz und im gesellschaftlichen Leben rechnen. Kennzeichnend für die gehässige Atmoshäre ist folgender Leserbrief, der am 11.November 1913 im Günz- und Mindelboten abgedruckt war: "Ein Abonnent, der Mitglied eines Soldatenvereines ist, schreibt uns: ..Durch die beiden Vorschlagslisten ist eine erfreuliche Klarheit geschaffen worden. Man kennt in den einzelnen Orten, welche die Listen aufführen, jetzt auch die Sozialdemokraten. Mancher, der sonst seine rote Fahne nicht so leuchten lassen wollte mit Rücksicht auf seine Umgebung, den Pfarrer usw. hat jetzt Farbe bekannt, indem er sich in die sozialdemokratische Liste eintragen ließ. Es ist aber doch selbstverständlich, daß für solche Leute kein Platz mehr ist in einem Soldatenverein oder Veteranenverein. Diese Vereine wollen und sollen dem patriotismus pflegen, den monarchischen Gedanken vertreten. Wie aber die Sozialdemokraten gegen diesen hauptpunkt verstoßen, haben sie erst in den letzten tagen bei Behandlung der Königsfrage gezeigt. Sie erstreben die Republik...Da gibt es nur eines: Ausschluß dieser erklärten Sozialdemokraten aus den patriotischen Vereinen..."
Der Ausschluß aus den patriotischen vereinen - das war für viele Sozialdemokraten eine leere Drohung. Ihre pazifistische Einstellung hatte ihnen doch den Schimpfnamen "vaterlandslose Gesellen" eingebracht. Als dann im Juli 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, befürchteten die Behörden den Ausbruch von Streiks und Unruhen. Die Gendarmeriestationen wurden angewiesen die "pazifistischen Agitatoren" zu überwachen. In Ichenhausen wurden die Genossen Wilhelm Lippl (Ortsvereinsvorsitzender der SPD), Fridolin Miller, Anton Vogt, Ulrich Auer und Josef Britzelmaier streng "observiert".
Aber Gewerkschaften (Karl Legien) und Sozialdemokratie (August Bebel) hatten schon früher erklärt, daß sie im falle eines russischen Angriffskrieges bei der Verteidigung Deutschlands ihren Mann stellen würden. Dieser Fall schien nun eingetreten zu sein. Die allgemeine patriotische Begeisterung tat ein Übriges, um auch zweifelnde Sozialdemokraten mitzureißen. Hätten die Arbeiter damals gewußt, daß sie in den fürchterlichsten Kreig marschierten, den die Welt bis dahin kannte, vielleicht...